Waffen für Ukraine und die Folgen: Immer häufiger wagt sich das ukrainische Militär auch auf russisches Territorium vor, um gezielte Schläge durchzuführen. Es besteht die Möglichkeit, dass die Bereitstellung immer weiterer moderner westlicher Waffen die Reichweite von Kiews Streitkräften deutlich vergrößert.
von Martin Stephan
Noch immer gibt es „im Westen“ – und hier insbesondere in Deutschland – viele Russland- bzw. Putin-Versteher, die den Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine zumindest verstehen, wenn nicht gar gutheißen. Schließlich sei „der Westen“ oder gerne auch „die Amerikaner“ dafür verantwortlich, dass durch die geplante oder bereits vollzogene politisch-gesellschaftliche „Inbesitznahme“ der Ukraine Russlands Sicherheitsinteressen massiv missachtet wurden und der russische „Befreiungsschlag“ nur folgerichtig sei. Diesen Leuten gegenüber kann ich nur erwidern, dass sie offenbar jeden Bezug zur Realität verloren haben, denn nichts, was in Sachen „Ukraine“ durch irgendwen und -wann auch immer durch Einmischung verursacht wurde, rechtfertigt Putins Angriffskrieg. Kein geringerer als Wladimir-Putin höchst persönlich hat – neben anderen russischen Präsidenten zuvor – die Staatsgrenzen der Ukraine vor etwa 15 Jahren ein weiteres Mal bestätigt und explizit anerkannt. Heute erfindet er irgendwelche Nazis – übrigens nicht nur in der Ukraine – von denen der Nachbarstatt gesäubert werden müsse.
Putins Wille und die russischen Streitkräfte werden unterschätzt
Sicherlich kann inzwischen behauptet werden, dass sich der durch russische Kampfverbände in der Ukraine geführte Angriffskrieg längst nicht so entwickelt wie vorher geplant war. Doch das ist bei Kriegen fast immer der Fall; siehe zum Beispiel den Vietnamkrieg oder die Afghanistan-Kriege. Krieg führen heißt immer auch anpassen und deshalb ist die gerade aus den USA zu uns herüberschwappende unverhohlene Freude über Putins „Problemarmee“ nicht nur völlig überflüssig sondern auch gefährlich. Denn Putin wird gerade uns in Europa noch spüren lassen, zu was er wirklich fähig ist – und an genügend Ausweichplänen wird es ihm nicht mangeln.
Die unsinnigen Definitionen zum Begriff „Kriegspartei“
Während sich Putins Russland darin gefällt, völlig abstruse Kriegspropaganda über den Grund der „Spezialoperation“ in der Ukraine gebetsmühlenartig in einer Art Endlosschleife zu verbreiten und auch überwiegend zu glauben, gefällt sich der Westen – auch Deutschland – darin, permanent auszuloten, dass man nicht zur „Kriegspartei“ wird, also die imaginäre „rote Linie“ nicht überschreitet. Hierfür werden Völkerrechtler, Militär-Experten oder Hochschul-Professoren, stets mit Gutachten im Gepäck, herangezogen, die aktuell überwiegend der Ansicht sind, dass dem nicht so sei. Na, da haben wir ja alle noch einmal großes Glück gehabt! Das wird Vladimir Putin zutiefst beeindrucken und erfreuen, dass wir da so vorbildlich aufpassen! Die Wahrheit sieht – logischer Weise – völlig anders aus! Denn jeder, der durch sein Handeln den Kriegsverlauf negativ verändert, ist aus russischer Sicht natürlich parteiisch, also Kriegspartei! Das würde übrigens auch jeder US-Präsident so sehen, der sich im theoretischen Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Nordkorea mit permanenten Waffenlieferungen an den Feind durch China und Russland konfrontiert sähe. Keine Frage: der Westen – inzwischen auch massiv Deutschland – ergreift Partei für die Ukraine durch mittlerweile auch schwere und moderne Waffen. Damit sind wir verständlicher Weise für Putin eine Kriegspartei, gleichgültig, was irgendwelche Völkerrechtler aus bedrucktem Altpapier ableiten.
Verbaler Angriff am 9. Mai
Möglicher Weise hat Putin nicht damit gerechnet, dass sich gerade Deutschland und auch viele andere Europäer, ja sogar die Türkei per Drohnenaufklärung, die zur Zerstörung der Moskwa im Schwarzen Meer geführt hat, so eindeutig „pro Ukraine“ und damit „contra Russland“ bekennen? Doch verschärft – nicht entschärft – diese Entwicklung den Kriegsverlauf und wir sind bereits mittendrin und nicht nur am Rande dabei. Bei seiner Rede am 9. Mai aus Anlass des 77. Jahrestages des Sieges der „glorreichen russischen Armee“ über Nazi-Deutschland wird Wladimir Putin deshalb Vergleiche ziehen zwischen dem Hitler-Regime und der heutigen Bundesregierung. Er wird beide Staaten als Nazi-Staaten gleichsetzen und uns damit – direkt oder indirekt – den Krieg erklären, in dem er uns als feindliche Kriegspartei klassifizieren und uns damit unverhohlen militärisch (be)drohen wird. Was auch immer Putin genau sagen wird, seine Worte werden der deutschen Regierung und Bevölkerung vermutlich durch Mark und Bein gehen.
Wir sind nicht vorbereitet auf russische Schläge gegen Deutschland
Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Dieser Krieg ist bereits dadurch entstanden, dass Putins Streitkräfte die Ukraine überfallen haben und damit zwingend eine Positionierung durch die Bundesregierung notwendig wurde – entweder pro Aggressor oder pro Verteidiger. Natürlich fiel die Entscheidung gegen den Kriegsverbrecher aus – und das ist auch gut und richtig! Nur muss sich halt ein jeder über die Konsequenzen im Klaren sein und das scheint auf europäischer Ebene noch immer nicht zu geschehen. Folgende Fragen stellen sich in diesem Zusammenhang beispielsweise:
- Wird Russland warten, bis sich bis zu 88 Leopard I Panzer aus Deutschland in Richtung Ukraine in Bewegung setzen oder wird man versuchen, dass auch heute noch moderne Kriegsgerät bereits bei der Endmontage in Deutschland und Frankreich zu zerstören, was taktisch sicherlich klug wäre?
- Wird Russland warten, bis auch die Rosneft-Raffinerie bei Schwedt enteignet und für die Herstellung von Russland-unabhängigen Ölqualitäten umgerüstet wird oder sollte man diese Anlage nicht vorab vor Ort zerstören oder sabotieren, was taktisch sicherlich klug wäre?
- Wird Russland warten, bis Deutschland bis zu 6 LNG-Terminals an Nord- und Ostsee errichtet hat – das erste soll bereits in 10 Monaten in Betrieb genommen werden – oder sollte man diese nicht unmittelbar vor Inbetriebnahme durch U-Boote oder Raketen einfach zerstören, was taktisch sicherlich klug wäre?
- Oder sollte Russland nicht gerade Deutschland zuvorkommen wenn es um den Verzicht auf russisches Öl und Gas geht und uns einfach den Hahn zuerst zudrehen bevor wir Lieferalternativen gefunden haben, was sicherlich taktisch klug wäre?
Vom Verteidiger zum Angreifer?
Und noch eine Entwicklung könnte für Europa, insbesondere Deutschland, außerordentlich gefährlich werden. Immer häufiger wagt sich das ukrainische Militär auch auf russisches Territorium vor, um gezielte Schläge durchzuführen. Es besteht selbstverständlich die Möglichkeit, dass die Bereitstellung immer weiterer moderner westlicher Waffen die Reichweite von Kiews Streitkräften deutlich vergrößert – allein die deutsche Haubitze schießt 40 km weit und ist dabei äußerst präzise. Und auch die sich aktuell vor allem in der Verteidigung befindlichen Soldaten der Ukraine singen beim Vorrücken nicht „Kumbaya“ oder „Imagine“ sondern sind gefährliche Kombattanten. Vermutlich werden deutsche Leoparde, Geparden und vielleicht auch Marder mit einem Hinweisschild „bitte nur zur Verteidigung verwenden“ ausgeliefert, doch wen interessiert das? Dann würden schon bald, wie bereits vor 80 Jahren, wieder „deutsche Panzer“ durch Russland fahren – nur gut, dass wir dieses Mal nichts damit zu tun haben: wir sind ja keine Kriegspartei!